Es war November.
Die Sonne hatte sich irgendwo hinter der dicken, grauen Wolkendecke versteckt und machte nicht den Anschein, als würde sie in der nächsten Zeit noch einmal vorbeischauen wollen.
Die Luft war kühl, der Herbst verabschiedete sich endgültig für dieses Jahr.
Es waren kaum noch gelb-, rot- oder orangeverfärbte Blätter an den Bäumen zu entdecken. Lediglich die braune Blättermatsche, die am Straßenland achtlos vor sich hingammelte, war zu erblicken.
Heute war der Tag besonders grau.
Kein helles, leichtes Grau, sondern ein dunkles „in-die-Fresse“-Grau, das sich irgendwie auf den Tag gelegt hatte und nun nicht mehr wegzubekommen war.
Ich schlang meinen Mantel enger um mich.
Trotzdem fröstelte ich. Ich hatte vergessen, einen Regenschirm mitzunehmen, als ich vor einer guten halben Stunde das Haus verlassen hatte.
Wenn ich ehrlich war, wäre ich unter normalen Umständen an einem Tag wie diesem auch niemals aus dem Haus gegangen, sondern hätte mich lieber mit meiner Kräutertee-Mischung und einem guten Buch, in meine Kuscheldecke gehüllt, auf die Couch gelegt und den Tag einfach vorüber gehen lassen.
Unter normalen Umständen…
Heute gab es aber keine normalen Umstände.
Heute war alles anders.
An jedem 27. November war alles anders.
Die 27 war keine schöne Zahl. Mal ganz davon abgesehen, dass sie keine Primzahl war und ihre Quersumme bei neun lag, zerbrach ich mir seit Jahren immer und immer wieder den Kopf über die Bedeutung dieser Zahl und kam jedes Mal zu dem Schluss, dass sie einfach nur Unglück mit sich brachte.
Nein, der 27. November war definitiv kein normaler Tag…
Ein Fahrrad fuhr durch eine Pfütze an mir vorbei und bespritzte meine ausgelatschten Converse mit dreckigem Pfützwasser.
Ich hatte sie noch nie geputzt, weswegen es keinen großen Unterschied machte und ich es mir sparte, meine Energie daran zu verschwenden, sauer auf irgendeinen belanglosen Fahrradfahrer zu sein, dem es komplett egal zu sein schien, dass er durch seine achtlose Fahrweise meine Schuhe beschmutzte.
An einem 27. November lohnte es sich nicht, sich wegen einer solchen Geringfügigkeit aufzuregen.
Ich lief weiter und ab und zu kam mir jemand mit einem Regenschirm entgegen, starrte auf sein Handy oder hatte seine Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass ich nicht erkennen konnte, um wen es sich dort handeln könnte.
Es hätte genauso gut mein Nachbar an mir vorbeilaufen können und ich hätte es nicht bemerkt.
Die Anonymität, die heutzutage fast wie selbstverständlich zwischen den Menschen stand, warf einiges an Unwohlsein in mir auf. Nicht zu wissen, um wen es sich bei meinem Gegenüber handelte, machte mich seltsam nervös.
Manchmal wünschte ich mir einfach jemanden, der genauer hinsah und vielleicht erkannte, dass sich die Welt gerade ohne mich weiterdrehte und ich festhing; irgendwo an einem Ort, an dem ich nicht die Person war, die ich gerade war.
Irgendwo, in irgendeinem Paralleluniversum, in dem ich nicht am 27. November durch nässende Kälte lief, und so tat, als wäre es das normalste der Welt und gleichzeitig das schlimmste Ereignis des Jahres.
Vielleicht auch ein Ort, an dem mich noch irgendwas hielt und wo ich nicht ständig auf der Schwelle zwischen dem Jenseits und der Realität stand.
Das Eingangstor wirkte wie ein riesiges, monströses Etwas, dem man normalerweise eher nicht über den Weg laufen wollte.
Ich sagte oft zu mir selbst, dass ich bestimmt häufiger herkommen würde, wäre das Tor einladender.
Keine solche Spitzen, die aussahen, als könnte man damit problemlos jemanden umbringen und keine solch imaginären, dunklen Wolken, die sich um das rostige Eisen herumzogen, als wären sie bereits ein fester Bestandteil dessen.
Ich straffte meine Schultern und machte einen Schritt auf das Tor zu.
Und ich war mir ziemlich sicher, dass sich keine Dämonen in meine Seele gepflanzt hatten, während ich unter dem Bogen hindurch lief.
Zumindest keine, die nicht schon vorher da gewesen waren.
Ich lief schnurstracks den schmalen Weg hinunter, der mich zum richtigen Patz führte.
Ich versuchte, die vielen Blumen, die wie bunte Kleckse im Grau vereinzelt neben dem Weg lagen, und die flackernden, schon halb abgebrannten Kerzen, so gut es ging, nicht wahrzunehmen.
Es war ein trauriger Ort, der mir auch nach all den Jahren nie vertraut geworden war und dies auch wahrscheinlich niemals werden würde.
Er ist nicht dazu da, sich auf ihm vertraut zu fühlen.
In meinem Weltbild waren Friedhöfe dazu da, sie zu verabscheuen; dafür, dass sie nun an der Seite unserer geliebten Menschen waren.
Auch, als ich am Grab ankam, fühlte ich nichts als eine Leere, den Schmerz und gleichzeitig eine gewisse Wut auf alles und jeden.
Ich starrte auf den Grabstein und las die Inschriften, die ich in- und auswendig kannte.
Ich wollte diesen Namen nicht kennen und ich wollte auch nicht diese hässliche 27 hinter dem Kreuz sehen, die dort dicht gefolgt von der elf stand und aussah, als könne sie kein Wässerchen trüben.
Ich sagte ja, die 27 war keine schöne Zahl, aber in Verbindung mit der elf, war sie wortwörtlich ein Todesurteil.
Ich setzte mich auf die schmale, verdammt morsche und bemooste, alte Holzbank, die vor dem Grab stand, als wäre sie extra dafür errichtet worden, mich an diesem Tag im Jahr zu halten.
Dieser eine Tag, an dem ich es nicht schaffte, mich alleine zu halten und mich selber wieder auf die Beine zu ziehen, sondern an dem mich eine verdammte Bank hielt. Nicht mal ein Mensch, sondern eine Bank, die so alt war, dass sie bei der kleinsten Bewegung wohlmöglich in sich zusammenkrachte.
Aber für den Moment hielt sie meinem Gewicht stand.
Und das machte die Bank so besonders; dass sie es schaffte, das Gewicht von mir und meinen verdammten Gefühlen zu halten, was kein anderer außer ihr je geschafft hatte.
Ich spürte einen zaghaften Regentropfen, der auf meine Nasenspitze fiel und dann, mit einem Mal, ergoss sich der gesamte Himmel in feinen Bindfäden über mich und die Bank.
Es dröppelte…
Maja (9.)